Während ich im neuen Mad Max saß und mein Adrenalin mit meinem Testosteron einen aufregenden Tango tanzte, dachte ich bei allem Spaß darüber nach, ob der Film nicht eigentlich eher Furiosa heißen solle. Denn im Grunde dreht er sich eher um die weibliche Hauptfigur Imperator Furiosa als um den titelgebenden Max. Wo ich schon dabei war, überlegte ich mir, dass ich gerne Django Unchained in Dr. Schultz räumt auf umbenennen würde und auch manch anderer Film einen neuen Titel gebrauchen könnte. Manchmal ist man von Namen und Blickwinkeln so leicht geblendet, dass man gar nicht hinterfragt, wessen Geschichte man hier eigentlich vorgesetzt bekommt, wer Haupt- und wer Nebenfigur ist. Als ich mich dann daran versuchte einen neuen Namen für Harry Potter zu finden, kam mir der Gedanke, dass vielleicht genau diese Filmreihe die Lösung des Dilemmas sein könnte. Aber zuerst zu Max und seinen Spießgesellen.
Der erste Mad Max Film handelt eindeutig von Max Rockatansky. Ein Polizist in einer nahen Zukunft voller Chaos und Verbrechen. Als seine Familie ermordet wird, beginnt er einen Rachefeldzug. Er ist unser Held, er ist unser Fokus. Wir erleben seine Geschichte und seine Entwicklung. In allen folgenden Teilen bietet sich jedoch ein anderes Muster: Max wird stets zum unfreiwilligen Helden, trifft auf Personengruppen und Anführerinnen, die eine viel wichtigere Geschichte erleben als er. Max will eigentlich nur überleben, schlittert aber ständig in die Abenteuer von anderen hinein; würde man den Film aus deren Perspektive erzählen, wäre das Narrativ und die Dramaturgie noch immer absolut intakt. Nur Max würde eben von der Hauptrolle zu einer tragenden Nebenrolle degradiert werden.
Das Spiel mit Haupt- und Nebenrollen ist spannender und filigraner als man zunächst annehmen möchte. Bei Mad Max funktioniert das Schema ideal, denn er kann seine eigene kleine Geschichte weben und lässt trotzdem Raum für die andere, große Hauptstory; Max ist charakterlich so ambivalent, dass er als Haupt- und Nebenfigur funktioniert.
Bei Fluch der Karibik hatte man leider weniger Glück, denn so fantastisch Jack Sparrow als starke Nebenrolle funktioniert, so sehr behindert er die Story im vierten Teil, als er plötzlich zur Hauptfigur wird. Jack war eben so beliebt, dass man ihn ins Rampenlicht stellen und seine Geschichte erzählen wollte – nur hatte er eben keine. Ganz anders in Django Unchained, wo die Nebenrolle des Dr. King Schultz eine so starke Persönlichkeit hat, dass er die eigentliche Hauptperson Django lange Zeit komplett in den Schatten stellt. Sogar das Drehbuch muss irgendwann eine Notbremse ziehen und ihn mit einem (nicht sonderlich eleganten) erzählerischen Kniff mundtot machen, damit wir zumindest anfangen uns ein wenig für Django himself zu interessieren.
Manchmal wissen eben weder Figuren noch Zuschauer um wen es eigentlich geht – und in wessen Geschichte sie leben. Oft ist das kein Zufall, sondern Kalkül. Im Film The Big Lebowski zum Beispiel hat fast nichts, was unser Protagonist Jeff ‘The Dude’ Lebowski tut, eine Wirkung auf seine Geschichte und auch er selbst entwickelt sich nicht weiter. Konsequenterweise stellt man fest, dass der Film gar nicht, wie man zuerst meinen könnte, nach ihm benannt ist, sondern nach dem anderen Lebowski, denn wie der Dude richtig sagt: „You’re Mr. Lebowski. I’m the Dude“.
Tom Stoppard greift das existenzielle Dilemma von Nebenfiguren, die plötzlich zu Protagonisten werden, in seinem Theaterstück und Film Rosencrantz and Guildenstern Are Dead auf. Wir folgen zwei Nebenfiguren aus Hamlet, die Hauptfiguren in ihrer eigenen Geschichte sind, ihr Leben leben und ihre Probleme haben, aber eigentlich ganz gut zurecht kommen. Wann immer sich aber die Handlung von Hamlet plötzlich einschiebt, ist es als würde jemand göttliche Fäden an ihnen ziehen und sie werden zu Marionetten in einem größeren Spiel, das sie nicht verstehen. Ein Sinnbild dafür, wie jede Figur in jedem Film und jedem Stück eigentlich eine ganz eigene Geschichte hat, die wir immer nur dann erblicken, wenn sie sich mit unserer Hauptgeschichte kreuzt.
Möchte man diese Codes und Finessen entschlüsseln, drängen sich bei solchen Betrachtungen drei Fragen auf: Wer ist der Protagonist der Geschichte? Aus wessen Perspektive wird sie erzählt? Gibt es noch eine andere Geschichte?
Als Beispiel dient hier wie so oft die klassische Star Wars Trilogie. Hier ist eindeutig Luke Skywalker der Protagonist: es ist seine Reise, er verliert viel, rettet den Tag und reift zum Helden heran. Während wir jedoch bei Mad Max fast ausschließlich bei Max sind, wechseln die Blickwinkel in Star Wars immer wieder; ein Hauptteil der Geschichte wird nämlich aus der Sicht der Droiden R2-D2 und C-3PO erzählt, mit ihnen beginnt der Film, sie haben das erste Wort, führen uns in die Welt und sind fast immer dabei. Wenn wir jetzt nach anderen Geschichten suchen, finden wir die alte Drehbuchweißheit „Every villain is the hero of his own story“ und stoßen auf Darth Vader. Spätestens wenn man die Prequel-Trilogie hinzuzieht sieht man nämlich, dass Vader seinen eigenen starken Figurenbogen hat, der lange vorbereitet wird und am Ende auch mit Erlösung und Vergebung endet. Drei Fragen, drei Antworten, drei Sichtweisen auf den gleichen Film. Und dann gibt es da natürlich noch Harry Potter.
Als ich das erste Mal die Harry Potter Filme sah, war ich überrascht wie nutzlos Harry ist. Natürlich ist er mutig und bewirkt auch hier und da was im kleinen. Außerdem ist er ein netter Typ, mit dem ich auch mal ein Butterbier trinken würde, aber immer wenn es hart auf hart kommt, ist er eine Damsel in Distress.
Würde ich einen Backstein bekommen für jedes Mal, dass Harry einen Kampf nicht gewinnt, sondern gerettet wird, könnte ich Hogwarts nachbauen! Mal ist es ein Phönix, mal ein Geisterhirsch, mal ein magisches Reittier, mal Dumbledore, Sirius oder Lupin. In Harry Potter und der Feuerkelch besteht die komplette Handlung daraus, dass Harry ein fingiertes Turnier gewinnt, und kaum beginnt die erste echte Konfrontation kommen Ghost-Mom und Ghost-Dad und lösen die Sache für ihn. Sogar im letzten Teil ist es nicht Harry sondern Neville, der den finalen Kampf mehr oder weniger gewinnt. Warum also um alles in der Welt brauchen wir Harry Potter in Harry Potter?
Genau hier ist der Knackpunkt, denn es gibt narrativ gesehen quasi zwei Harry Potter. Der eine ist der Junge, der Voldemorts Angriff überlebte und jetzt plötzlich eine immense Wichtigkeit für die gesamte Magierwelt (und auch Voldemort selbst) hat, und dieser Harry ist nichts weiter als eine Trophäe zum Jagen. Er ist der Malteser Falke, der heilige Gral, die Bundeslade, der goldene Schnatz: jeder will ihn, jeder hält ihn für wichtig. Ereignisse passieren seinetwegen, aber am Ende ist er nur ein Spielball der Mächte, der keinen großen Einfluss auf sein Schicksal hat.
Der andere Harry ist ein ganz normaler Junge der erwachsen werden möchte, der Freundschaft und Liebe entdeckt und der Probleme mit Harry Nummer Eins hat, eben weil die ganze Welt auf ihn schaut und ihn für die eierlegende Wollmilchsau hält, obwohl er keine besonderen Kräfte und Fähigkeiten hat und überhaupt nur noch am Leben ist, weil seine Mutter und Voldemort zufällig Dinge gemacht haben, zu denen er nichts beigesteuert hat. Dieser Harry ist der interessantere, denn sogar wir als Zuschauer stellen gewisse Erwartungen an ihn.
Kaum schalten wir einen Film an, der Harry Potter heißt, und kaum erfahren wir, dass es böse Mächte gibt, die die gesamte Welt bedrohen, machen wir Harry automatisch zu unserem Helden und vertrauen darauf, dass er Hauptfigur und Triebfeder der Geschichte ist und uns retten wird. Die anderen sind eben nur Nebenfiguren. Wir sind nicht besser als die Einwohner der Potterwelt und legen noch mehr Last auf Harrys imaginäre Schultern.
Wird die Story aus seinem Blickwinkel erzählt? Absolut! Gibt es noch eine andere Story? Ja! Hunderte: Nevilles, Hermines, Dumbledores, sogar die von Harrys Eltern, die einiges geleistet haben. Aber wer ist denn dann der Held dieser Story und wessen Geschichte sehen wir? Hier wird es schwammig. Tatsächlich könnte es Voldemorts Geschichte sein, der ab Teil eins langsam erstarkt und am Ende sein Finale findet; würde man sie aus seiner Perspektive erzählen, wäre es die Story einer Schatzjagd und dieser Schatz ist Harry Potter. Auch Snape kommt hier in Frage, der von allen Figuren wohl das meiste opfert und die tragischste Geschichte hinter sich hat. Vielleicht geht es um Hagrid, sein Einsiedlertum und seine Einstellungen zur Familie oder Dumbledore.
Die Lektion in Harry Potter ist aber tatsächlich vielleicht diese: Nur weil die ganze Welt Höchstes von dir erwartet, bist du nicht unbedingt ein Wunderkind, sondern vielleicht nur ein ganz normaler Junge mit normalen Fähigkeiten und normalen Problemen, an den zu hohe Anforderungen gestellt werden. Vielleicht ist in Harry Potter niemand eine Hauptfigur und niemand eine Nebenfigur, sondern wir legen nur unseren persönlichen Fokus auf diesen oder jenen und projizieren in diese Charaktere das hinein, was wir gerne hätten. Vielleicht schlucken wir zu leicht das einfache Angebot der Film- und Literaturschaffenden, die uns weißmachen wollen: Nur weil ein Werk nach einer Figur benannt ist und aus deren Sicht erzählt wird, muss sie der wichtigste Dreh- und Angelpunkt sein.
Am Ende steht natürlich immer das Bedürfnis nach einem guten Film und wenn die uns angebotene Hauptfigur dafür genügt, wenn wir Lust haben mit ihr auf Reisen zu gehen, selbst wenn sie keine Handlungsmacht besitzt oder nur Teil einer kleinen Geschichte ist, die ein Streiflicht von größeren Geschehnissen ist, dann hat das seine Berechtigung. Dennoch darf man sich hier und dort einfach mal fragen, ob man wirklich gerade die Geschichte erzählt bekommen hat, die man glaubt gesehen zu haben. Denn am Ende sind alle fiktiven Figuren wohl nur ein Rosencrantz und Güldenstern, die immer nur einen kleinen Ausschnitt aus der großen Realität sehen, die ein Autor für sie vorbereitet hat. Und wenn wir sie nicht aus diesem Dilemma befreien und über den Tellerrand blicken, wer dann?