Auf einer Liste von Dingen, die mich nicht interessieren, stand bis vor kurzen das Realfilm-Remake des Jungle Books recht weit oben. Wie viele Filmliebhaber strecke ich meinen Finger gen Himmel, prangere die widerliche Ideenlosigkeit Hollywoods an und stelle die brennende Frage: Brauchen wir wirklich noch mehr Remakes von Klassikern? Die erstaunliche Antwort lautet: Ja. Und zwar nicht technisch, sondern moralisch!
Es scheint als gehöre Disney, von Marvel bis Star Wars, fast jedes große intellectual property in Hollywood. Trotz dieser kommerziell erfolgreichen Schatzkiste an neuen Möglichkeiten, kann es der Konzern leider trotzdem nicht lassen, immer wieder in seiner eigenen Vergangenheit Grabraub zu betreiben.
Seit neusten hat man sich nämlich zum Ziel gesetzt immer mehr ihrer „beloved animated family classics“ in Realfilme zu verwandeln. Maleficent versuchte vor zwei Jahren aus Sleeping Beauty eine Abwandlung von Wicked zu machen und der letztjährige Cinderella ist mehr oder weniger eine eins zu eins Umsetzung des Animationsfilms. Beide Machwerke hinterlassen einen faden Beigeschmack in der Dinge-die-die-Welt-nicht-braucht-Schublade.
Das Jungle Book hätte genau in die gleichen Fallen tappen können: ideenloser Neuaufguss oder schlecht gemachter Abklatsch. Doch zum Glück ist er etwas mehr geworden. Nämlich in erster Linie ein guter Film.
Das Remake von Iron Man-Regisseur Jon Favreau sieht gut aus, hat Tempo und Humor, beeindruckt mit ein paar phänomenal aufgebauten Szenen (allen voran das Intermezzo mit King Louie), ist für Kinder eine echte Achterbahn und für Erwachsene vielleicht kein Lieblingsfilm aber dennoch sehenswert. Das Drehbuch ist dicht geschrieben und obwohl viele Referenzen und Seitenhiebe auf das Original enthalten sind, ist es ein eigenständiger Film, der vielleicht ohne die Songs sogar noch besser funktioniert hätte. Aber etwas Fanservice muss ja dabei sein. Das wirklich bemerkenswerte ist jedoch, dass es die Moral des originals auf den Kopf stellt und verdichtet.
Die Story vom Jungle Book ist natürlich die gleiche geblieben: Mowgli ist ein Findelkind im indischen Dschungel, das von Wölfen großgezogen wird und als der Tiger Shir Khan zurückkehrt und ihn Fressen will, nimmt sich der Panther Bagheera seiner an und versucht ihn wieder zu den Menschen zu bringen. Auf den Weg dorthin begegnen sie freundlichen und feindlichen Bewohnern des Dschungels.
Doch hinter dieser Geschichte stecken vertiefte und veränderte thematische Ansätze. Ein Beispiel ist die neue Bedeutung des Feuers in der aktuellen Version. Schon im alten Jungle Book hatte der Tiger Khan Angst vor dem Feuer und der Affenkönig Louie wollte es für sich nutzen, allerdings eher auf eine verspielte Art und Weise. In der upgedateten Version ist das Feuer viel gegenwärtiger und viel klarer als Waffe gekennzeichnet. Die Tiere fürchten es, die Menschen nutzen es, die verheerende Kraft und vernichtende Wirkung werden immer wieder betont und auch oft gezeigt. Shir Khans Gesicht ist von Brandnarben entstellt und die Entscheidung ob man diese Waffe nutzt um die Machtverhältnisse im Dschungel zu kippen, ist eine sehr viel präkerere, eine viel politischere.
Ohnehin gibt es eine Menge Politik in Favreaus Dschungelwelt: die Elefanten sind quasi zu Elben geworden, die den Dschungel von Beginn der Zeit kennen und schützen, die Wölfe haben eigene Hierachien gebildet, es gibt Waffenruhen zur Trockenzeit, einen Ehrenkodex, ein Gleichgewicht der Mächte, als Mowgli das Gesetz des Dschungels zitiert, erklärt Balu es zur Propaganda und eine Enklave der Affen, die autonom herrscht braucht nur noch eine Waffen.. pardon… Feuerlieferung um eine Diktatur zu erschaffen.
Was das Hauptthema angeht ist das neue Jungle Book allerdings viel näher an Disneys 99er interpretation von Tarzan als an seiner eigentlichen Vorlage. In beiden Filmen geht es vorrangig darum wo man hingehört und die Hauptfiguren werden durch eine gehörige Identitätskrise gezerrt: Tarzan will ein Gorilla sein, aber sein Gorillavater erkennt das nicht an. In einer der schöneren Szenen des Filmes hockt der verzweifelte junge Tarzan am Flussufer und reibt sich mit Schlamm ein um endlich wirklich wie ein Affe auszusehen. Eines Tages erkennt er aber, in eine pfiffige Montage gebettet, dass er seine eigenen Wege finden muss um mitzuhalten und so erfindet er Werkzeuge, schwingt von Lianen und schafft es Teil der Familie zu sein ohne seine Persönlichkeit aufzugeben. Der gleiche Parcours wird von Mowgli im neuen Jungle Book gelaufen: Mowgli will Wolf sein, schafft das “wolfen“ aber nicht ganz, wird erfinderisch und ist plötzlich ein besserer Wolf als alle anderen Wölfe, dank seiner menschlichen Fähigkeiten. Doch die Frage bleibt: wo gehört man hin?
Diese Frage stellt sich der 67er Mowgli nie wirklich. Der will hauptsächlich im Dschungel bleiben und bockt hier und da rum aber als plötzlich am Ende ein hübsches Mädel auftaucht, schöne Augen macht und ein Liedchen trällert ist er auf und davon und wieder bei den Menschen. Keine Hintergedanken, keine Sinnkrise. Tarzan fällt die ganze Angelegenheit schon schwerer, denn der entdeckt, dass er eigentlich zu den Menschen gehören sollte, aber dass die Gorillas seine Familie, seine Welt und auch seine moralischen Werte besser verkörpern. Es wird ein Kompromiss gefunden: Tarzan bleibt bei den Gorillas, aber er darf seine Jane behalten, die damit auch zum Stamm gehört. Das neue Jungle Book geht allerdings noch einen Schritt weiter.
Nach all den Irrungen und Wirrungen wohin man gehört und wohin nicht, trifft Mowgli immer wieder auf Tiere im Dschungel, denen er mit seinen Erfindungsreichtum, mit seinen menschlichen Qualitäten helfen kann und schafft sich damit Freunde. Der neue Mowgli geht nicht zurück zu den Menschen sondern bleibt im Dschungel.
Nicht nur das, sondern er schafft sich auch eine Identität außerhalb des Wolfsrudels. In einer großen Finalen Schlacht stehen alle Tiere, denen er geholfen hat, plötzlich für ihn ein und der Voice-Over von Bagheera erzählt uns, dass noch nie der Dschungel vereint gewesen sein. Das letzte Bild des Filmes ist nicht Mowgli bei den Menschen oder Mowgli bei den Wölfen, sondern Mowgli in der Nähe des Wolfsrudels auf einem Baum mit Bagheera dem Panther und Balu dem Bären. Am Ende hat er nicht die Gruppe, das Rudel oder die Vaterfigur gefunden, zu der er gehören muss, sondern ist ein Individuum geblieben, dass mit jeden Bewohner des Dschungels etwas zu tun hat.
Hier wird, ab von jedem technischen Update, erst die wahre Tugend dieses Remake sichtbar, nämlich dass es moderne Werte vertritt. Das fast 50 Jahre alte Original hat die klare Linie, dass Menschen zu Menschen und Wölfe zu Wölfen gehören und wenn man das nicht akzeptiert, dann muss man es eben erst lernen. Tarzan trat in den 90ern bereits in eine andere Richtung, indem Identität nicht genetisch bedingt ist, sondern mit Lebensweisen, Normen und Werten zu tun hat, die man sich selbst aussucht. Aber dennoch muss man in Tarzans Welt noch immer eine Wertegemeinschaft finden, zu der man passt. Das neue Jungle Book ist vollends in einer Multikulturellen Gesellschaft aufgegangen, in der jedes Individuum integriert werden kann ohne assimiliert zu werden und schafft damit einen Mikrokosmos der gesellschaftlichen Utopie. Man ist weder durch Geburt noch durch soziale Gruppierungen zu einem Lebensweg gezwungen, sondern kann seine eigenen Tugenden finden und ausleben und dabei sogar noch anderen Helfen und Brücken zwischen Parteien schlagen, wenn es sich ergibt.
In diesen Lichte betrachtet ist der Film seinen eigenen Werten sehr treu: er erfindet sich individuell neu, ohne seine Wurzeln zu verleugnen und spielt in vielen Schubladen, ohne sich in eine stecken lassen zu wollen. Wir erleben ein Remake, wie es sein soll, erzählerisch dichter und moralisch spannender als sein Vorbild und dadurch so sehr etwas eigenes, das beide Werke ihren Wert haben. Wenn ich meinen Kindern nur ein Jungle Book zeigen würde, dann wäre es sicher dieses hier, wo es keinen Klassenunterschied mehr gibt und die Panther bei den Wölfen schlafen. Doch das Schöne ist (und auch hier greift wieder die neue Denklinie), dass es diese Entscheidung nicht geben muss. Es herrscht kein Konkurrenzkampf, kein Futterneid, zwischen dem unverfänglichen damals und dem spannungsgeladenen heute, sondern plötzlich existieren einfach zwei Filme, die für ihre jeweiligen Ansätze und ihre Entstehungszeit hervorragend sind.