{"id":876,"date":"2020-04-11T12:06:00","date_gmt":"2020-04-11T12:06:00","guid":{"rendered":"http:\/\/doktorpeng.lifeisadobbitsch.de\/?p=873"},"modified":"2020-05-13T13:59:53","modified_gmt":"2020-05-13T13:59:53","slug":"terror-ein-choose-your-own-adventure-buch-mit-nur-3-seiten","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/terror-ein-choose-your-own-adventure-buch-mit-nur-3-seiten\/","title":{"rendered":"Terror \u2013 Ein Choose-Your-Own-Adventure-Buch mit nur 3 Seiten"},"content":{"rendered":"\n

Die Welt steht am Abgrund und es muss Farbe bekannt werden! Darf man hunderte von Menschen opfern um Tausende zu retten? Darf man das Grundgesetz brechen um Extremisten zu bek\u00e4mpfen? In <\/strong>Terror<\/em><\/strong> steht ein Mann deswegen vor Gericht und die Entscheidung \u00fcber sein Schicksal treffen Sie! Ja, SIE! Sie und alle anderen Fernseh- oder Kinozuschauer, die einen Zettel ausf\u00fcllen, eine Hotline anrufen, die Internetseite der ARD erreichen oder sich generell einen feuchten Kehricht darum scheren, bei dieser meta-medialen Farce mitzumachen.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Wenn die Abende sp\u00e4t und die Biere leerer werden, sitzt man ja manchmal zusammen und fragt sich Dinge wie: \u201eWenn du in einem Raumschiff sitzt, das abst\u00fcrzt, und nur ein trainierter Schimpanse oder Adolf Hitler k\u00f6nnten es landen\u2026wem w\u00fcrdest du dann das Steuer \u00fcbergeben?\u201c Dann faselt man etwas Zeug und lacht herzlich \u00fcber die Absurdit\u00e4t der Situation und dar\u00fcber, dass man doch irgendwie noch Nietzsche zitieren konnte, um sein Argument zu st\u00e4rken, weil man mal einen Philosophiekurs in der Abendschule besucht hat.<\/p>\n\n\n\n

Doch als der Charakterdarsteller Burghart Klau\u00dfner mir pl\u00f6tzlich mit steinerner Miene in die Augen blickt und klar macht, dass hier ein Menschenleben auf dem Spiel steht und ich dar\u00fcber entscheiden muss, f\u00e4llt mir fast mein M\u00fcslil\u00f6ffel aus dem Mund. Eins ist klar: Ich habe eine gro\u00dfe Verantwortung zu tragen w\u00e4hrend der n\u00e4chsten 90 Minuten. Besser, ich mach\u2018 mir Notizen.<\/p>\n\n\n\n

In der Theateradaption des Ferdinand von Schirach St\u00fccks Terror<\/em> geht es um ein fiktives Szenario, dass sich auff\u00e4llig nach 9\/11 anh\u00f6rt. Ein Flugzeug wurde entf\u00fchrt, Ziel des Terroristen ist vermeintlich das prall gef\u00fcllte Olympiastadium. Ein junger Soldat (Florian David Fitz) schie\u00dft entgegen direkter Befehle das Flugzeug ab, t\u00f6tet dabei 164 Menschen, rettet aber vielleicht 70.000. Wir erleben den Gerichtsprozess gegen ihn aus n\u00e4chster N\u00e4he mit. Und nach und nach dreht sich sowohl dem Filmliebhaber, dem Medienkritiker als auch dem Hobbyphilosophen in mir der Magen um.<\/p>\n\n\n\n

Der Film Terror<\/em> ist in gewisser Art und Weise ein Nicht-Film, ein Pamphlet. Die Figuren sind Schablonen, die dazu dienen Meinungen und Gedankeng\u00e4nge greifbar zu machen, die Dialoge schwanken entsprechend zwischen Moralpredigt und Infotalk. Alles wirkt sehr trist, sehr distanziert, sehr konstruiert, sehr als w\u00fcrde es eher auf die B\u00fchne als auf den Bildschirm geh\u00f6ren oder in ein studentisches Essay \u00fcber Recht und Gerechtigkeit.<\/p>\n\n\n\n

W\u00e4hrend wir Details \u00fcber die deutsche Luftwaffe vorgetragen bekommen und einige Artikel \u00fcber das Grundgesetz und Bundestagsentscheidungen durch den Raum wehen wie Heuballen, werden immer wieder emotionale Momente forciert, die erstaunlich fehl am Platz wirken. Wenn die Kamera an den wichtigen Stellen bedeutungsschwanger zoomt, klingt ein dramatisches DAM-DAM-DAAAAM im Kopf mit. Von der Finesse eines <\/strong>Sidney Lumet<\/strong><\/a> sind wir Lichtjahre entfernt, aber man kriegt eine gewisse Vorstellung davon, wie eine Folge Richter Alexander Hold auss\u00e4he, wenn bessere Schreiberlinge und ein Millionenbudget zur Verf\u00fcgung st\u00fcnden.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Fairerweise sei gesagt, dass diese trockene Darstellungsweise und die Entfernung zum Zuschauer h\u00f6chstwahrscheinlich Teil des Konzeptes waren, aber es bleibt ein Konzept, das nur schwerlich aufgeht und das liegt nicht zuletzt am zugrunde liegenden Gimmick.<\/p>\n\n\n\n

Im 60er Jahre Horrorschinken Mr. Sardonicus <\/em>trat der Meister der Filmgimmicks, Regisseur William Castle, gegen Ende kurz vor das Publikum und bat es, \u00fcber das Schicksal des B\u00f6sewichts zu entscheiden. Eine vorher verteilte Karte mit einem Daumen musste nach oben oder unten gehalten werden, w\u00e4hrend Castle auf der Leinwand z\u00e4hlte und stets zu dem Schluss kam, dass die Mehrheit Sardonicus tot sehen will. Dieses spielerische Prinzipium wird mit Terror<\/em> jetzt Realit\u00e4t: Es gibt eine echte Abstimmung, die \u00fcber das Schicksal der Hauptfigur entscheidet. Effektiv \u00e4ndert sich aber nur eine einzige Szene, n\u00e4mlich die Urteilsverk\u00fcndung.<\/p>\n\n\n\n

Da es allerdings nur zwei Auswahlm\u00f6glichkeiten gibt, gleicht Terror<\/em> weniger einem interaktiven Erlebnis, als einem Choose-your-own-Adventure-Buch mit nur drei Seiten. Zugegeben, das Ergebnis interessiert einen als Zuschauer, aber die Verk\u00fcndung ist nicht mehr als ein Infococktail und die Figuren sind einem ebenso egal, dass eine Balkengrafik den gleichen emotionalen Eindruck hinterlassen h\u00e4tte. Der wesentliche Unterschied ist aber, dass Castle wei\u00df, dass er sich nicht ernst nehmen kann, w\u00e4hrend Terror<\/em> keinen Zweifel daran lassen will, wie relevant, kontrovers und moralisch herausfordernd dieser Film ist.<\/p>\n\n\n\n

Das ist er aber nicht.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Das Gewicht, das Terror<\/em> von der ARD zugesprochen wird, macht sich erdr\u00fcckend bemerkbar als nach dem Hauptfilm eine Episode Hart aber Fair<\/em> gezeigt wird, in der Politiker, Geistliche und Milit\u00e4rabgeordnete \u00fcber den Film reden, als sei er ein Teil unserer Lebensrealit\u00e4t. Schmerzlich vermisse ich einen Medienwissenschaftler, der diesen Menschen klarmacht, dass wir ein konstruiertes Szenario beobachtet haben und Vergleiche mit wirklichen Ereignissen leicht piet\u00e4tlos sind. \u00dcber diese Figuren zu reden, als w\u00e4ren sie echte Menschen, \u00fcber dieses Szenario, als sei es gerade passiert \u2013 das grenzt an Hohn. Die Causa Terror<\/em> ist nicht der Fall Eichmann und je mehr er sich um Glaubw\u00fcrdigkeit bem\u00fcht, indem er popul\u00e4re Dilemmata der westlichen Philosophie erw\u00e4hnt und oft laut den Namen Kant in den Mund nimmt, desto mehr verkommt er zum fleischgewordenen Bildungsb\u00fcrger-Stammtisch.<\/p>\n\n\n\n

Das Traurigste an diesem ganzen Mummenschanz ist, dass der Film und die um ihn entstandene Kampagne suggerieren, dass es m\u00f6glich ist, f\u00fcr komplexe moralische Probleme einfache Ja-Nein-Antworten zu finden. Wenn man alle Fakten kennt \u2013 so die These \u2013 muss man als Mensch eine Entscheidung treffen k\u00f6nnen, die eindeutig ist. Aber selbst mir als K\u00fcchenphilosophen ist klar, dass Moralphilosophie so nicht funktioniert. Der Diskurs, der angeboten wird, ist kein echter, sondern am Ende wird man gezwungen, alles in eine Schublade zu stecken.<\/p>\n\n\n\n

Eine Idee, die oft im Film angesprochen wird ist, dass man in Extremsituationen nach eigenem moralischen Empfinden urteilen muss. Aber genau das tun wir hier nicht. Es wird uns abgenommen \u00fcber eine Situation zu urteilen, sondern wir urteilen \u00fcber eine Figur und das ist etwas v\u00f6llig anderes. Der einzige wirkliche Ausweg f\u00fcr den Zuschauer als aufrechtes moralisches Wesen w\u00e4re eine Enthaltung oder eine ausf\u00fchrliche Stellungnahme. Doch dieses Recht bleibt uns verwehrt.<\/p>\n\n\n\n

Wenn Jack Nicholson in A Few Good Men<\/em>  vor Gericht eine widerliche Weltansicht propagiert<\/a>, scheint sie dennoch erschreckend realistisch \u2013 und das macht uns nerv\u00f6s. Auch hier handelt es sich um ein adaptiertes Theaterst\u00fcck, auch hier um ein Gerichtsszenario. Den Unterschied machen  die dramatische Struktur und die spannenden Figuren, die hier um ein Thema kreisen, statt der Pappkameraden, die dem Zuschauer bei Terror<\/em> eine Pistole auf die Brust setzen und zum Statement n\u00f6tigen wollen.<\/p>\n\n\n\n

Das trennt einen guten Film von dem Gedankenexperiment Terror<\/em>: Er er\u00f6ffnet eine moralische Kontroverse, \u00fcber die der Zuschauer freiwillig reflektiert, anstatt dazu gezwungen zu werden. Er l\u00e4sst mehrere Schl\u00fcsse zu und wirkt noch nach, anstatt gleich aus dem Kopf zu verschwinden, sobald man eine bin\u00e4re Entscheidung getroffen hat. Der Zuschauer, der diese Entscheidung trifft, ohne das Konzept zu hinterfragen, macht sich einer ganz anderen Tat schuldig.<\/strong><\/p>\n\n\n\n

Denn man sollte sich sp\u00e4testens dann um seine s\u00e4uberlich konstruierte moralische Zwickm\u00fchle Sorgen machen, wenn die einzig richtige Antwort auf die Aufforderung nun endlich f\u00fcr schuldig oder nicht schuldig zu stimmen aus einer quirligen 80er Jahre Kom\u00f6die<\/a> kommt:<\/p>\n\n\n\n

\u201eThe only winning move is not to play.\u201c<\/strong><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Deutsches Fernsehen ist so eine Sache, selbst wenn man sich das Ende aussuchen kann.<\/p>\n","protected":false},"author":1,"featured_media":0,"comment_status":"closed","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":{"_seopress_robots_primary_cat":"","_seopress_titles_title":"","_seopress_titles_desc":"","_seopress_robots_index":"","footnotes":""},"categories":[9],"tags":[],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/876"}],"collection":[{"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/1"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=876"}],"version-history":[{"count":2,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/876\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":1057,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/876\/revisions\/1057"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=876"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=876"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/www.lifeisadobbitsch.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=876"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}